Alfred Brehm: Zerrissener Pionier für das Tier

Achtung, dieser Post ist bereits aus dem Jahr 2019. Einige Informationen könnten veraltet sein.

Brehms Tierleben

Er war Zoodirektor, hielt sich privat eine Schimpansin, präparierte Vögel und machte Jagd auf Adler. Auf den ersten Blick ein klassischer Tierausbeuter, verabscheuungswürdig. Doch Alfred Brehm muss primär als Kind seiner Zeit gesehen werden. Und im Kontext des 19. Jahrhunderts betrachtet, kommt seine lichte Seite ebenso hervor. Brehm war wohl der erste Naturforscher, der aufgrund eigener aufmerksamer Beobachtung Tieren Verstand und Gefühle zubilligte. Das von ihm verfasste „Brehms Tierleben“ galt Jahrzehnte als Referenzwerk. Ein Pionier für das Tier? Jein.

Geboren im kartesianischen Zeitgeist

In der Einführung zu „Brehms Tierleben – Die Gefühle der Tiere“ schreibt der Verhaltensbiologe Karsten Brensing: „Heute wissen immer mehr Menschen: Tiere sind keine instinktgesteuerten Kreaturen, die einer Maschine gleich nur so handeln wie ihre ‚Programmierung‘ es ihnen vorgibt. Sie besitzen emotionale und kognitive Fähigkeiten, die mit denen von uns Menschen vergleichbar sind… Vor 150 Jahren erschien es jedoch äußerst abwegig, sich Gedanken über Gefühlswelten, das Bewusstsein und die Intelligenz von Tieren zu machen.“

Mit diesen Worten im Hinterkopf habe ich mir die Mühe gemacht, den Zeitgeist, in den Alfred Brehm (1829-1884) eingebettet war, ein wenig auszuleuchten.

Einer der bestimmenden Philosophen war immer noch René Descartes (1595 – 1650), der den Tieren eine Seele kategorisch absprach, sie als bloße Automaten sah, einem biologischen Uhrwerk gleich. Deshalb gab es für Naturforscher wie Luigi Galvani (1737-1798) auch keinerlei Problem, Frösche zu zerstückeln und elektrotechnische Versuche mit ihren Schenkeln durchzuführen. Sezieren, Experimentieren und Präparieren, das waren die einzigen Kriterien, die in der damaligen kartesianischen Forschung bei Tieren zur Anwendung kamen. Carl von Linné (1707-1778) machte aus der Sammelwut eine Wissenschaft, indem er eine umfangreiche Nomenklatur entwarf. Die Einteilung in Arten, Gattungen, Familien, usw. haben wir ihm zu verdanken; Linné, der Vater der zoologischen Taxonomie.

Alfred Brehm war mit dieser Art des Denkens seit Kindheit an eng vertraut. Geboren als Sohn eines thüringischen Pfarrers, der sich als Vogelkundler sah, kam er mit dem Töten, Präparieren und Sammeln von Tieren früh in Kontakt. Vom Vater lernte er all diese Praktiken. 9.000 ausgestopfte Exponate soll es im elterlichen Haus gegeben haben.

Gelehrte, wie Alexander von Humboldt, der 1799-1804 auf große Amerika-Forschungsreise gegangen war, befeuerten die Sammelmanie mit toten Tieren. Da wundert es wenig, dass Brehm schon als 18-Jähriger den Baron von Müller nach Afrika auf Expedition begleitete. Fünf Jahre (1847-1852) sollte der Aufenthalt in Ägypten und im Sudan dauern und von allerlei Unheil überschattet sein: Sein adliger Mäzen kehrte ihm den Rücken zu, sein Bruder ertrank im Nil, er selbst holte sich die Malaria.

Brehm kehrte mit einer Tiermenagerie nach Europa zurück: Löwin, Leopard, Gepard, Strauße, Affen und jede Menge präparierte Vögel. Wieder daheim in Thüringen, promovierte er innerhalb von nur zwei Jahren in Naturwissenschaften. Während seiner Studienzeit in Jena galt Brehm als bunter Vogel, der mit seinem Affen Pharao durch die Gegend zog.

Brehms Tierleben

Die Zeichnung zeigt Alfred Brehm mit Schimpansin Molli im Kaffeehaus. (Illustration: © Duden)

Sinneswandel durch „Vermenschlichung“

Auch wenn Alfred Brehm dem Faible für tote Exponate nie abschwor, setzte ein Umdenken bei ihm ein. Er verbrachte viele Stunden damit, lebendige Tiere zu beobachten, um ihr Verhalten zu studieren. Seine Erkenntnisse publizierte er in der Wochenillustrierten „Die Gartenlaube“. Laut Karsten Brensing das „erste Massenmedium Deutschlands“, mit „so vielen Lesern wie heute Der Spiegel, Stern und Focus zusammen“.

Da es damals kein Urheberrecht gab, konnte Brehm von seinen Artikeln nicht leben. Als Brotberuf wählte er Zoodirektor, zuerst in Hamburg, später in Berlin. War es Usus, die Tiere in äußerst enge Käfige oder Gehege zu pferchen, pochte er darauf, größere Anlagen zu bauen. In Berlin setzte er durch, dass ZoobesucherInnen in Tunneln vorbeigeschleust wurden, um die gefangenen Tiere nicht noch mehr zu verängstigen. Durchaus löbliche Innovationen, wenngleich heute natürlich die Devise gilt: It’s not larger cages, but empty cages that justice demands.

1863-1869 erschienen die ersten sechs Bände seiner Enzyklopädie „Illustrirtes Thierleben“. Ab der zweiten Auflage (zehn Bände, 1876-1879) hieß das monumentale Nachschlagwerk „Brehms Thierleben“. Es fand großen Anklang im Bildungsbürgertum.

Brehm schrieb:

„Das Säugetier besitzt Gedächtnis, Verstand und Gemüt… Es zeigt Unterscheidungsvermögen, Zeit-, Ort-, Farben- und Tonsinn. Erkenntnis, Wahrnehmungsgabe, Urteil, Schlußfähigkeit; es bewahrt sich gemachte Erfahrungen auf und benutzt sie; es erkennt Gefahren und denkt über Mittel nach, um sie zu vermeiden; es beweist Neigung und Abneigung, Liebe gegen Gatten und Kind, Freunde und Wohltäter; Haß gegen Feinde und Widersacher, Dankbarkeit, Treue, Achtung und Mißachtung, Freude und Schmerz, Zorn und Sanftmut, List und Klugheit, Ehrlichkeit und Verschlagenheit. Das kluge Tier rechnet, bedenkt, erwägt, ehe es handelt.“

Das war nun wirklich ein Faustschlag ins Gesicht von Descartes und gleichzeitig einer gegen das Dogma der Kirche, für die allein der Mensch zu solch Sinnen und Fühlen fähig wäre. Sogar über das Krokodil, einer als bösartig angesehenen Tötungsmaschine, befand er: „Einen gewissen Grad an Verstand kann man ihm nicht abschreiben.“ Brehm übertrug Alleinstellungsmerkmale des Menschen auf das Tier, er „vermenschlichte“ es. Zweifellos ein rebellischer Zugang für die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Es war es auch, der sich bereits 1861 für Vogelschutz aussprach, zumal seine Heimat Thüringen als Hotspot der Singvogelfängerei galt. Zahlreiche grobschlächtige Papagenos brachten unsägliches Leid über die gefiederten Freunde. Freilich zeigt sich auch hier wieder Brehms Zerrissenheit: Dem Adler nämlich sprach er jegliche Nützlichkeit ab und hätte ihn wohl am liebsten ausgerottet gesehen. Auch über die Kreuzotter wusste er wenig Gutes zu sagen.

Brensing bringt es auf Seite 36 auf den Punkt: „Doch trotz seiner aus heutiger Sicht unglaublich eingeschränkten Sichtweise war Brehm ein Vorreiter im Natur- und Artenschutz“.

Und weiter: „… und wir verdanken ihm viel, denn er hat als erster Naturforscher das lebende Tier und sein Verhalten in den Mittelpunkt (…) gerückt. Seine Herangehensweise war damals neu, kreativ, vielleicht ein wenig verrückt aus Sicht seiner Zeitgenossen, aber gleichzeitig absolut erforderlich.“

Nach 39 Seiten Einleitung kommt Brehm auf den restlichen knapp 200 direkt zu Wort. So kann sich die Leserin, der Leser selbst ein Bild seiner Tiersicht machen. In insgesamt dreiundzwanzig Kapiteln geht Brehm auf bestimmte Tierarten ein: von Fuchs, Wolf und Eichhörnchen über Kuckuck, Waldkauz, Kolkrabe und Seeadler bis zu Laubfrosch, Hirschkäfer, Eintagsfliege und Landschnecke. Schön kolorierte Zeichnungen sorgen für optische Auflockerung.

Resümee aus heutiger Sicht

Alfred Brehm lebte in einer Zeit des naturwissenschaftlichen, ethischen, philosophischen und politischen Umbruchs. Sein Zeitgenosse Charles Darwin (1809-1882) bereiste auf der HMS Beagle (1831-1836) die Welt, sammelte, forschte und erschütterte mit der Evolutionstheorie die gesellschaftlichen Grundpfeiler.

Namhafte Philosophen begannen dem kartesianischen Weltbild, in dem Tiere zu leidensunfähigen Maschinen herabstuft worden waren, entschieden zu widersprechen:

Arthur Schopenhauer (1788-1860): „Mitleid mit Tieren und ein guter Charakter sind derart eng miteinander verknüpft, dass man mit Gewissheit feststellen kann, dass niemand, der grausam zu Tieren ist, ein guter Mensch sein kann.“

Jeremy Bentham (1748-1832), holte die Leidensfähigkeit von Tieren in den Focus: “The question is not, Can they reason?, nor, Can they talk?, but, Can they suffer?“

1824 war in England mit der Society for the Prevention of Cruelty to Animals der erste Tierschutzverein ins Leben gerufen worden, 1846 gründete Ignaz Castelli den Wiener Tierschutzverein. Alfred Brehm reiht sich mit seinem Opus Magnum „Brehms Tierleben“ in diese Zeit des Umbruchs ein; mit einem Bein noch in der alten, mit dem anderen schon in der neuen Ära stehend.

Brehms Tierleben

Die Gefühle der Tiere

Karsten Brensing
Duden (2018)
240 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-411-71782-8

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Ein Artikel von Alexander
veröffentlicht am 22.01.2019
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